Die gestrige 6. Runde sah zwei entschiedene und zwei unentschiedene Partien.

Weder Nepo noch Fabi schienen gestern in großer Kampfeslaune zu sein: in einem Schottischen Vierspringerspiel wurde zügig viel Material und schließlich auch die Damen abgetauscht, sodass schließlich schon im 41. Zug ein Endspiel mit ungleichen Läufern auf dem Brett stand, welches nur ein Attribut zuließ: totremis! Den mangelnden Ehrgeiz beider Spieler sieht man auch an ihrem geringen Zeitverbrauch von deutlich unter 20 Minuten für die gespielten 41. Züge. Aber wer will es den beiden bei diesem Turnierstand auch verdenken, daß keiner ein unnötiges Risiko eingehen wollte?

In der Partie zwischen Gukesh und Naka war zunächst gefühlt etwas mehr los, aber auch hier stellte sich im Mittelspiel schnell heraus, daß der gegenseitige Respekt wohl doch zu groß war, um allzu ehrgeizige Pläne zu entwickeln. Zielstrebig wurde von beiden jede Vereinfachungsmöglichkeit, die den Gegner der Chance auf aktives Spiel beraubte, genutzt, und so wurden auch in dieser Partie direkt nach der Zeitkontrolle Hände zum friedfertigen Ausgang geschüttelt.

Ganz anders dagegen der Verlauf der beiden anderen Partien. Alireza Firouzja war offenbar von seiner gestrigen schmerzlichen Niederlage gegen Hikaru noch so konsterniert, daß er heute gegen den stark und entschlossen aufspielenden Vidit jegliche großmeisterliche Souveränität vermissen ließ und als Schwarzer in einem Sizilianer, in dem es für Schwarz auf schnelle Entwicklung ankommt, mehrfach scheinbar planlos und unnütz mit der Dame herumzog statt seine Figuren zu entwickeln, und schließlich auch noch, recht gefräßig und non-chalant, auf f2 einen vergifteten Bauern einheimste. Vidit ließ sich nicht zweimal bitten, seinen gewaltigen Entwicklungsvorsprung durch Öffnung der Stellung mit 14. e5! zu nutzen. Danach hatte Weiß dann alle Figuren prächtig entwickelt und eine mächtige Druckstellung, während Schwarz völlig unterentwickelt und mit dem König in der Mitte steckengeblieben schon im 17. Zug fast keine sinnvollen Züge mehr hatte. Was für eine Demütigung! Vidit ließ sich diesen Vorteil nicht mehr aus der Hand nehmen, und brachte die Partie souverän nach Hause.

Beeindruckend auch der Sieg von Praggnanandhaa mit Weiß gegen den fast schon bemitleidenswerten Nijat Abasov: das Endspiel, das Pragg hier zeigte, war vom allerfeinsten, und der Zug 40. Sd7!! war von einer strategischen Tiefgründigkeit, welche die Kommentatoren einhellig in Begeisterung versetzte.

Es zeigt sich, daß die ELO-Differenz von fast 100 Punkten, die Abasov hinter den anderen Teilnehmern das Kandidatenturniers liegt, auf diesem Niveau tatsächlich doch einen Klassenunterschied ausmacht. Es bleibt zu hoffen, daß Abasov sich noch fängt, und das Turnier zumindest einigermaßen gesichtswahrend zu Ende bringen kann.

Der Blick auf die Tabelle nach der 6. Runde läßt den Schluß zu, daß für die Spieler auf den Plätzen 1-6, die nur einen Punkt auseinander liegen, im Turnier wohl noch alles drin ist, während es für Firouzja und Abasov schon jetzt nur noch um Schadensbegrenzung geht. Das dürfte insbesondere für Firouzja, der im Vorfeld mit hohen Erwartungen konfrontiert war, doch recht schmerzlich und enttäuschend sein. Hoffen wir, daß er mit dieser Situation, auch mit Hilfe seiner Sekundanten, gut umgehen kann.